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Da scheiden sich die Geister

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Liebe Lore,

was meinst du, darf man auf einem Mahnmal herumhüpfen? Jetzt wirst Du Dich sicher wundern, warum ich diese Frage stelle. Schließlich sind meine Kinder schon erwachsen, und dass ich selber wie eine Bergziege über die Steine springe, ist eher unwahrscheinlich.

Aber es geht ja auch nicht um mich, sondern um einen dreizehnjährigen Jungen. Ich war nämlich am Wochenende in Berlin, mit meiner Freundin Anne und ihrem Sohn Mike. Berlin ist eine tolle Stadt und auch für Jugendliche interessant. Doch man kann nicht kilometerweit durch die Stadt trotten, an der Eastside Gallery entlang, über den Alexanderplatz, später durch das Regierungsviertel und weiter zum Brandenburger Tor, und stundenlang den Erklärungen der Erwachsenen lauschen. Da braucht auch der verständigste Teenager mal eine Abwechslung. Und die ergab sich am „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, das, wie Du weißt, aus dunkelgrauen Betonblöcken besteht. Es sind insgesamt über 2.700, alle gleich lang und breit, aber unterschiedlich hoch.

Holocaust-Denkmal, BerlinHolocaust-Denkmal, BerlinNatürlich hat Mike das Mahnmal durchaus ernstgenommen und sich für den Sinn der Anlage interessiert. Das stand aber für ihn nicht im Widerspruch zu der sportlichen Herausforderung, die diese Betonblöcke bieten. Er kletterte also auf einen davon, nahm Schwung und sprang auf den nächsten, alle Müdigkeit war vergessen, jetzt zählte nur noch, den Abstand zum nächsten grauen Block zu überwinden. Seine Augen leuchteten, er lachte zufrieden, wenn er wieder mal einen gewagten Sprung geschafft hatte. Währenddessen schlenderten Anne und ich die schmalen Pfade zwischen den Betonpfeilern entlang und machten Fotos.

Holocaust-Denkmal, BerlinNach vielleicht zehn Minuten kam Mike wieder angetrottet. Die Freude aus seinen Augen war verschwunden, er sah aus, als sei er gerade von einem strengen Lehrer ermahnt worden. Eine Aufseherin, so erzählte er, habe ihm verboten, auf den Blöcken herumzuspringen. Er habe doch gar nicht gewusst, dass man das nicht dürfe!

Anne regte sich gleich auf. Dass Kinder hier spielten, sei doch im Sinne des Erfinders! Peter Eisenman, der Architekt, habe neulich, anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Anlage, gesagt, er finde es gut, wenn Kinder hier herumrennen und spielen würden. Das Holocaust-Denkmal solle in Berlin Teil des Alltags sein. Und sie sei der Ansicht, dass Kinder ihre eigene Art hätten, die Dinge zu erfahren und zu erleben, eben nicht nur mit ihrem Verstand, sondern auch mit ihrem Körper.

Ja, da konnte ich ihr nur recht geben. Was nichts daran änderte, dass die Aufseherin unter anderslautenden Anweisungen handelte und diese auch durchsetzte. Aber immerhin hatte Mike zehn Minuten seinen Spaß gehabt. Er nahm das Ende seiner Parcours-Runde achselzuckend hin. Kinder sind es ja – leider – gewöhnt, dass man ihnen ständig etwas verbietet.

Holocaust-Denkmal, BerlinIch selber habe auch danach noch über die Sache nachgedacht. Soll man Kinder dort spielen lassen? Du kennst ja das übliche K.O.-Argument: Wenn das jeder machen würde… Aber es ist ja keineswegs so, dass gleich Tausende von Kindern anrücken und das Mahnmal als Spielplatz nutzen. Im Gegenteil, Mike war zu dem Zeitpunkt das einzige Kind, das sich da gerade sportlich betätigte.

Und was ist eigentlich mit den Erwachsenen? Ist es so viel respektvoller, vor den Betonblöcken Selfies aufzunehmen und dabei dämlich in die Smartphone-Kamera zu grinsen? Kann mir keiner erzählen, dass er in genau diesem Moment an das grausame Schicksal der Juden in Europa denkt. Ich habe auch eine Braut im wallenden weißen Seidenkleid gesehen, die neckisch hinter einem der grauen Blöcke hervorblickte und sich dabei fotografieren ließ. Da wage ich doch sehr zu bezweifeln, dass ihr bewusst war, dass sie sich an einem Holocaust-Denkmal befand.

Nur ein springendes Kind mit all seiner Lebensfreude, das ist mal wieder ein Dorn im Auge. Dabei ist doch die reine Lebensfreude eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ein Kind zu einem freundlichen und friedfertigen Erwachsenen heranwächst.

Mit lieben Grüßen von mir und dem Berliner Bären

Deine nachdenkliche Hanne


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